Mittwoch, 18. März 2015

Abendständchen


Noch immer auf dem Balkon, es wird langsam kalt. Ich schaue nach Westen. Die Sonne ist verschwunden, der letzte zartrosa Streifen verblasst. Der Himmel fast dunkel, und nur die Venus sehe ich noch da oben.

Vom Balkon über die Straße das Gelächter der ältesten Tochter und ihrer Freundinnen, ein Hühnerhof, versammelt die ganzen jungen Frauen, die ich schon als kleine Mädchen kannte. Ein letztes Atemholen der Tochter, bevor sie ihr Studium beginnt. Ein Jahrgang von zehn Menschen, vier Jahre werden sie zusammen sein. 'Verabschiedet Euch von allem', hatten sie ihnen gesagt. Zehn, die es schafften, von Hunderten, die scheiterten. Sie hat sich was getraut, wohl mehr, als ich jemals wagte. 12 Stunden am Tag wird sie eingebunden sein, arbeiten, an sich, mit anderen. Schleifen, schwitzen. Sie hat ihren Weg angefangen, sie geht, mit Angst und Freude.
Ich schaue wieder zur Venus. Wie viele Augenpaare haben da schon hochgeschaut? Wie viele Generationen, wie viele Gedanken, Gefühle? Durch Jahrhunderte, Jahrtausende. Immer der gleiche Blick. Milliarden mal ein anderer Blick. Theoretisch könnte ich Oma werden. Unfassbar. Wo ist das alles hin? Die Zeit? Wer bin ich, was bin ich? Ein Staubkorn, ein Wimpernschlag, eine Ewigkeit? Es löst sich alles auf, ich werde ein Nichts und ich werde Gott. Was habe ich erreicht? Asche und Staub, Gold und Weihrauch. Alles und nichts. Wo gehe ich hin? Wann gehe ich? Ich bin ein siebenjähriges Mädchen und eine hundert Jahre alte Frau.
Interessiert es die Venus, was ich ihr entgegenfühle? Für mich ist der Augenblick gerade einzigartig. Sie, die Venus, hat ihn wohl schon häufiger erlebt, diesen Augenblick.
Mittelalte Damen, die sinnieren.

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