Dienstag, 4. September 2012

Und noch einmal Huch!?

Die Süddeutsche berichtet in ihrer heutigen Printausgabe über den verspäteten Fund der Habilitationsschrift des Kunsthistorikers Erwin Panofsky.
Panofskys Lehre von der Bildbetrachtung ist bis heute state of the art, auch ich lernte im ersten Semester Kulturwissenschaften, ein Bild durch Panofskys Augen zu betrachten, als Quelle zu würdigen.
Aber ach.
Im Artikel gibt es zwei Sätze, die mir mächtig sauer aufstoßen:
"Er [der Mensch des Mittelalters, Anm. der Autorin] war keine räumlichen Darstellungen gewohnt, weil die Kunst seiner Zeit sich lieber den goldgrundierten Versprechungen des Jenseits widmete."
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht: epic fail.
In diesem einen Satz werden wieder sämtliche Vorurteile über das finstere Mittelalter, die prunkverliebte (katholische) Kirche und den armen, irregeführten "kleinen Mann" gedroschen.
Zum Heulen.
Es gibt da ein schönes Buch, das ich jedem Leser, vor allem aber der Süddeutsche-Redakteurin ans Herz legen möchte:
Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München, 1990
Klappentext:
"Es ist schwer, die Bedeutung des Bildes in der europäischen Kultur abzuschätzen. Wir sind so sehr von der 'Ära der Kunst' geprägt, dass wir uns von der 'Ära des Bildes' nur schlecht einen Begriff machen können. Die Kunstgeschichte hat deshalb kurzerhand alles zur Kunst erklärt, um auf alles einen Besitztitel anzumelden, und damit gerade die Unterschiede nivelliert, von denen Aufschluss über unser Thema zu gewinnen wäre."
Die 'Ära des Bildes' wird in diesem Mehrkilowälzer, dem ich hier auch nicht annähernd gerecht werden kann, detailliert, fachlich mehr als fundiert und spannend aufgerollt. Von der Sehnsucht der noch heidnisch geprägten Neu-Christen nach Bildern im Spannungsverhältnis zum christlichen Bilderverbot und vom Spagat der Theologen, sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen; vom Machtkampf Kaiserbild versus Christusbild; von der spannenden und reichen Entwicklung der Ikone in der Ostkirche und der Reliquare/Tafelbilder/Schaubilder der Westkirche.
Eine Leseprobe, die den Zeitraum der Reformation, der Bilderstürme, des Machtverlustes des Bildes, des sola scriptura betrifft:
"[...] Das ganze Votivwesen brach zusammen, und mit ihm die Selbstdarstellung der römischen Kirche als Institution mit Gnadenmitteln und Privilegien, die in Reliquien und Bildern sichtbar verkörpert waren. [...]
Das Wort wurde im Hören und Lesen, aber nicht im Sehen aufgenommen. Die Einheit von äußerer und innerer Erfahrung, die im Mittelalter den Menschen leitete, zerbricht in einem rigorosen Dualismus von Geist und Materie, aber auch von Subjekt und Welt, der in der Lehre Calvins seinen Ausdruck fand [...]. Der Blick findet weder in Bildern noch in der Welt, in der Gott nichts als sein Wort hinterlassen hat, einen Anhalt für die Präsenz Gottes. Das Wort als Träger des Geistes ist ebenso abstrakt wie der neue Gottesbegriff, die Religion ein ethisches Lebensprogramm. Das Wort bildet nichts ab, sondern ist Zeichen der Verständigung. Die Distanz Gottes verbietet seine Präsenz in einem gemalten Abbild für die Sinneserfahrung. Das Subjekt der Neuzeit, das sich der Welt entfremdet, sieht die Welt gespalten in das bloße Faktische und den verborgenen Sinn der Metapher. Das alte Bild ließ sich gerade nicht auf eine Metapher reduzieren, sondern erhob den Anspruch auf unmittelbare Evidenz von Augenschein und Sinn.
Nun wirkt das gleiche Bild plötzlich als Symbol eines archaischen Lebensgefühls, in dem noch die Harmonie von Welt und Subjekt versprochen war. An seine Stelle tritt die Kunst, die zwischen den Augenschein des Bildes und das Verständnis des Betrachters eine neue Sinnebene legt: Sie wird dem Künstler eingeräumt, der  das Bild als den Beleg von Kunst in die eigene Regie nimmt. Die Krise des alten Bildes und die Entstehung
des neuen Kunstcharakters bedingen einander. [...]" Belting, S. 25
So geht Wissenschaft.
So viel zu dem von mir als hingeschnöselt empfundenen zitierten Satz aus dem Süddeutsche-Artikel.
Den zweiten Satz zitiere ich nur kurz an, der ist für mich inzwischen ein trauriges Programm geworden und steht für Worthülsen, die ein Weiter- oder Drumherum- oder Dahinterdenken offensichtlich überflüssig machen:
"Er [Panofsky, Anm. der Autorin] war ein Europäer vor seiner Zeit, [...]."
Ächz.

3 Kommentare:

Der Herr Alipius hat gesagt…

Super! Das verlinke ich einfach mal ganz dreist!

Charlotte hat gesagt…

Du musst mir gar nicht sagen, wenn Du was verlinkst, da mein Statcounter jedes mal durch die Decke schießt!

Der Herr Alipius hat gesagt…

LOL!